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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 05.09.2013


Tonia Reeh - Fight Of The Stupid
Philippa Schindler

Ein Klangexperiment, wie es ungewöhnlicher kaum sein könnte. Auf Reehs aktuellem Album gibt die Klappe eines alten Kaffeeautomaten den Rhythmus an und Hundeschüsseln werden mit Percussionbesen...




... bearbeitet.

Manch eine/r mag die Berliner Musikerin Tonia Reeh noch als "Monotekktoni" kennen. Unter diesem KünstlerInnennamen trat sie bis vor wenigen Jahren auf, sang gesellschaftskritische Texte zu elektronisch produzierter "Krachmusik" - eine Bezeichnung, die sie selbst einmal gewählt hatte. Heute zeigt sich Tonia Reeh in einem anderen musikalischen Gewand und auch das blausamtene Bühnenoutfit der oft skurrilen Monotekktoni ward nicht mehr gesehen.

Für einen kompletten Neustart hält die Musikerin ihr Album "Fight Of The Stupid" trotzdem nicht. Bereits 2011 legte sie mit ihrem Debut "Boykiller" erste Grundsteine für einen klassischen, klavierlastigen Stil. Dieser wird auch auf der aktuellen Platte weitergetragen und erscheint sogar bewusster und ausgefeilter, als auf dem vorangegangen Album. Besonders das erste Lied "Small Trees and Huge Birds" zeugt von einer schlichten Klarheit – hier geben Piano und Gesang den Ton an.

Auch Stücke wie "Stolen" und "Hellhound" sind von der Idee geprägt, mit Stimme, Klavier und einigen wenigen Soundeffekten eine möglichst große Vielfalt musikalischer Interpretationen zu schaffen. Manchmal energisch, manchmal zaghaft-melancholisch – Tonia Reeh schlägt auf ihrem neuen Album jeden Ton an und verirrt sich dabei auch inhaltlich in Winkel und Ecken, die sonst unbeachtet bleiben. So singt sie in "The Defeated Women" über das Scheitern an der Mutterrolle, ein Thema das sonst meist stillschweigend übergangen wird.

Allen Liedern gemeinsam ist jedoch der Hang zum Experimentellen, zum Verstörenden und Verzerrten. Diese Vorliebe mag wohl noch aus Zeiten der Monotekktoni herrühren, als mit Keyboard und Synthesizer harsche Noise-Attacken produziert wurden. Besonders in aktuellen Stücken wie "Non Believer" und "Cancer Dancer" findet sich dieser eigenwillige Stil wieder. Dann stößt Tonia Reeh ihre opulente Stimme in tiefste Tiefen und gibt den Lyrics unter Zischen und Fauchen eine Melodie. Die Selbstbeschreibung "Hard Listening", die sie für ihr früheres Soloprojekt wählte, trifft also auch auf das aktuelle Werk zu. Bewusst abgegrenzt hatte sie sich damals von dem Genre des "Easy Listening", unter das all die Musik fällt, die nebenbei und ohne abzulenken gehört werden kann. Und so ist auch "Fight Of The Stupid" ganz gewiss keine Platte, die im Hintergrund wirkt. Sie ist klug, temperamentvoll und avantgardistisch, drängt sich bewusst in den Vordergrund und ist dabei alles andere als unkompliziert.

Doch nicht nur Reehs Vorhaben, neue Wege in der Verbindung von Popmusik und klassischer Moderne zu beschreiten, prägen das Album. "Fight Of The Stupid" wird besonders durch ihr musikalisches Talent und ihr kompositorisches Können zu einem so vielschichtigen und tiefen Werk. Die beeindruckend kraftvolle Stimme der Musikerin ist ihr als Tochter zweier OpernsängerInnen in die Wiege gelegt. Und auch, dass sie auf eine Ausbildung zur klassischen Pianistin zurückgreift, ist ihren Stücken deutlich anzuhören: Mal klimpert sie feinfühlig, mal schlägt sie energisch und wild in die Tasten. Mit nur wenigen Tönen auf dem Klavier gelingt es ihr, Stimmungen und Emotionen zu transportieren.

Dass es sich bei "Fight Of The Stupid" um ein sehr intimes Album handelt, darauf weist bereits die Fotografie auf der Frontseite des Covers hin: Ein nackter Mann blickt verstört in die Kamera, auf seinem Kopf balanciert er einen Apfel. In sepiafarbenes Licht getaucht, wirkt das ohnehin rätselhafte Bild beinahe märchenhaft. Und ganz falsch liegt mensch mit dieser Interpretation nicht, taucht doch das Motiv des Apfelschusses in vielen europäischen Sagen auf. All diesen Geschichten gemein ist, dass jemand einen Apfel vom Kopf eines Kindes schießen muss und einen weiteren Pfeil bereithält, um im Falle eines Fehlschusses diejenigen zu töten, die ihm diesen Auftrag gaben. Doch welche Bedeutung das Bild für Tonia Reehs "Fight Of The Stupid" trägt, wird wohl erst mit dem Erscheinen der Lyrics erklärt werden. Ist es der Schrecken des Momentes, bevor der Pfeil abgeschossen wird? Oder referiert die Darstellung auf Reehs eigene künstlerische Entblößung, durch die sie selbst ihre privatesten Stücke der Öffentlichkeit preisgibt? Wir dürfen gespannt sein!

AVIVA-Tipp: Mit "Fight Of The Stupid" ist Tonia Reeh ein Album gelungen, das nachhaltig zu beeindrucken vermag. Gerade die Reduktion auf wenige instrumentelle Mittel, die jedoch in ihrer vollen Bandbreite ausgespielt werden, macht das Werk der Musikerin so spannend und außergewöhnlich. Tieftraurige Stücke folgen auf schräge Kompositionen folgen auf Melodien zum Mitsummen. "Fight Of The Stupid" hat dank seiner Vielfalt definitiv das Potential, zu einer der treusten Platten im Musikregal zu werden! Einmal lieb gewonnen, wird uns dieses Album so schnell nicht verlassen.

Tonia Reeh
Fight Of The Stupid

Clouds Hill (Rough Trade)
VÖ: 06.09.2013

Mehr Infos zu Tonia Reeh auf:

www.toniareeh.de

Weiterhören auf AVIVA-Berlin:

Tonia Reeh – Boykiller

Monotekktoni - Different Steps To Stumble




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Beitrag vom 05.09.2013

Philippa Schindler